Unsere Autorin ist ausgewandert, hat ein Hotel in Nicaragua eröffnet, das Meson Nadi. Unterwegs über die Straßen von Granada durch die Dschungel und Flüsse des Paradieses, berichtet Saskia Nadi von einem Leben in Zentralamerika, das von Neugier getrieben wird

&ldquo;Und wie bist du hier gelandet?&rdquo; Das ist die mir am h&auml;ufigsten gestellte Frage. Vor f&uuml;nf Jahren habe ich Nicaragua das erste Mal besucht. Zusammen mit meinem Mann reiste ich damals ein halbes Jahr lang vom Norden des Landes bis zur costa-ricanischen Grenze. Dieses immer noch vom B&uuml;rgerkrieg ersch&ouml;pfte Land ist von Leidenschaft und Liebe&nbsp;erf&uuml;llt, und es hat mich n&auml;her zu mir selbst gef&uuml;hrt. Denn wer ist man, wenn man alles verloren hat, oder meint, alles zu besitzen? 
Letzten September hatten wir an der Costa Esmeralda in Tola, auf einer alten Bananenplantage 20 Meter vom Meer entfernt, unser Hotel Meson Nadi er&ouml;ffnet, jetzt machte ich mich auf zu einer Reise durch Nicaragua &ndash; auf der Suche nach der Freiheit. Das Land ist durchzogen von Fl&uuml;ssen, die Ozeane miteinander verbinden und deren Uferwege in der gerade endenden Regenzeit als die besseren Stra&szlig;en dienen, weil sie kaum befahren und nicht so abgenutzt sind wie die eigentlichen Stra&szlig;en, die in d&uuml;nn besiedelten Gegenden abrupt nach einer Kurve enden k&ouml;nnen. Man bahnt sich dann den Weg auf Schotterpisten durch den Dschungel, vorbei an Holzh&uuml;tten und Rinderfarmen.

Saskia Nadi hat ihr persönliches Paradies gefunden. Mit ihrem Mann betreibt sie nun ihr kleines, feines Hotel | ©Saskia Nadi

Dschungel, Bergketten, Flusstäler – irgendwo darin verläuft das, was es an der Straße gibt. Ein Abenteuer? Natürlich! Dafür ist das Leben ja da | ©Saskia Nadi

Das Boutiquehotel Meson Nadi unserer Autorin Saskia Nadi. Natürlich träumen wir alle davon, hier einmal einzukehren. Alle Infos gibt es unter www.mesonnadi.com | ©Saskia Nadi

Sobald die Trockenzeit beginnt, verwandeln sich die Stra&szlig;en in nicht enden wollende Puderzuckerwolken aus Gold. Durch das Gegenlicht, das durch den Bl&auml;tterwald scheint, entstehen faszinierende fremde Bildwelten. Insgesamt &uuml;berquert man 34 ausgetrocknete Flussbette, um zu&nbsp;Meson Nadi&nbsp;zu kommen. Manche sind seit Jahrzehnten trocken, manche k&ouml;nnen jedoch w&auml;hrend kurzer Regenf&auml;lle zu rei&szlig;enden Fl&uuml;ssen werden. Der gr&ouml;&szlig;te und l&auml;ngste Fluss, der sich tief ins Land verzweigt, ist der Rio San Juan. Fr&uuml;her einmal war der Fluss die einzige Route zu der 1524 gegr&uuml;ndeten Hauptstadt der spanischen Kolonialherrschaft. 
Granada ist Welterbest&auml;tte und der Dreh- und Angelpunkt Nicaraguas. Ein Spaziergang durch die Stadt ist eine Zeitreise: geschm&uuml;ckt mit pittoresk bunten Hausfassaden, durch deren alte Eisentore und offene Hauseing&auml;nge man erahnt, welcher Prunk&nbsp;hier einmal herrschte. Alle f&uuml;nf Meter folgt ein skurriler Szeneriewechsel auf den anderen, wie kleine, aneinandergereihte Kosmen.

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Ein idyllischer Zufluchtsort inmitten der str&ouml;menden Massen Granadas ist das&nbsp;Tribal Hotel, nur ein paar Stra&szlig;en von der bunten Aufregung entfernt und so in sich geschlossen, dass Zeit nicht zu existieren scheint. Ein Ort mit eigenem Charisma. Von meiner privaten Veranda mit bunten anatolischen Kilimteppichen sehe ich durch die dichten, hoch gewachsenen Bananenstauden Yvan Cussigh kommen, den Betreiber, einen sympathischen Mittf&uuml;nfziger, dessen Stil am besten beschrieben ist als eine Mischung aus&nbsp;understatement casual New York&nbsp;City&nbsp;und&nbsp;Ibiza Glamour.

Sein kurzes graues Haar&nbsp;und sein raues L&auml;cheln erz&auml;hlen von &uuml;berm&uuml;tigen N&auml;chten und ferner europ&auml;ischer Herkunft. Mit einem dominanten italienischen Akzent erz&auml;hlt er mir, wie er sich rein zuf&auml;llig in Nicaragua wiederfand: W&auml;hrend eines Urlaubs in Costa Rica versuchte er, dem nicht enden wollenden Starkregen zu entkommen. Er buchte einen Flug in das Nachbarland Nicaragua. Danach kam er regelm&auml;&szlig;ig. &bdquo;Es fasziniert mich heute noch wie echt es ist, vor allem im Vergleich zu Costa Rica. Die Menschen, die Traditionen, die Musik, die &uuml;berall die ganze Zeit spielt. Das st&auml;ndige Chaos auf allen Stra&szlig;en. Die Stadt vibriert permanent, sei es im Zentrum von Granada, in den unterschiedlichen Stadtteilen, oder den Au&szlig;enbezirken.&ldquo;

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Sp&auml;ter treffe ich Alicia Zamora Noguera, die mich in ihr Atelier einl&auml;dt. Alicia, eine nicaraguanische K&uuml;nstlerin, eine wahrhaftige Rebellin und Feministin, paart Scharfsinn mit Zur&uuml;ckhaltung. Alicias Atelier ist bunt und intensiv. Es dr&auml;ngt sich auf. Von der abgeh&auml;ngten Styropordecke h&auml;ngen bunte Girlanden und kleine chinesische Lampions, die den Raum in einen Farbrausch&nbsp;tauchen. Ein Schreibtisch voller ausgerissener Zeitungsartikel und Skizzen ist das einzige M&ouml;belst&uuml;ck. Es steht wie willk&uuml;rlich inmitten des Raumes. Alicia ist wie ein sprechendes Spiegelbild ihres Ateliers und zeigt mit ihrem Finger auf ihre Arbeiten, w&auml;hrend sie erkl&auml;rt. Kaum zu Ende gekommen, rei&szlig;t sie neue Mappen hinter dem Schreibtisch hervor. Alicia zuzuh&ouml;ren bewegt mich so sehr, dass ich meine Tr&auml;nen zur&uuml;ckhalten muss. &bdquo;Das sind die Indigenen, und das hier ist ein L&ouml;ffel in Form eines Kruzifixes.&ldquo; Ich betrachte mir ihre Arbeit. Ein Kautschukdruck in Schwarz und Rot von einer indigenen Person, in deren Kopf der Kruzifixl&ouml;ffel steckt.

Kamal Ben, Alicias Mann, der aus Tunesien stammt und der vor eineinhalb Jahren eine bezaubernde kleine B&auml;ckerei namens&nbsp;Delicias de Oriente&nbsp;neben Alicias Atelier er&ouml;ffnet hat, serviert mir l&auml;chelnd ein St&uuml;ck von seinem selbst gebackenen Mandelkuchen und gibt Alicia einen Kuss auf die Stirn. Kamal ist kein Mann vieler Worte, er wirkt wie ein Weiser aus dem Morgenland, der viele Geschichten in sich h&uuml;tet. Sein Handwerk erlernte er schon in Kinderjahren von seiner Familie in Tunesien, und Backen, das ist sein Leben. Er bleibt schweigsam, klopft mir auf die Schulter und trinkt l&auml;chelnd seinen Espresso.

Die Künstlerin Alicia Zamora Noguera verarbeitet die Geschichte der Indigenen in ihren Werken | ©Saskia Nadi

Ihr Mann Kamal Ben backt derweil köstliche Croissants und orientalisch angehauchte Leckereien | ©Saskia Nadi

Der Markt von Masala bietet die ganze Farbenpracht nicaraguanischen Kunsthandwerks – und ungefähr alles andere. Für unsere Autorin ist er einer der schönsten Orte des Landes | ©Saskia Nadi

Von Streetfood bis Hängematten: Der Handwerksmatt von Masala, der Mercado de Artesanías, ist ein rauschendes Fest für alle Sinne | ©Saskia Nadi

Die Calle La Calzada ist die Hauptader Granadas und beherbergt alles, von Fremdenf&uuml;hrern, dem Finanzamt, Alicias Atelier und der B&auml;ckerei ihres Mannes bis zum&nbsp;El Tercer Ojo, einem Fusion-Restaurant im Innenhof einer modernisierten Kolonialvilla. In dem angrenzenden Hauptgeb&auml;ude reihen sich moderne Aluminium-Schaufenster aneinander. Hier findet man organische Seifen, nicaraguanische Modedesigner und Secondhandl&auml;den. Der Zenit solcher Kleinbetriebe befindet sich in Masaya &ndash; der Wiege der nicaraguanischen Folklore &ndash;, das eine zehnmin&uuml;tige Autofahrt westlich von Granada liegt. 
Der K&uuml;nstlermarkt im Zentrum der Stadt, der sich in einem gotischen Geb&auml;ude von 1888 aus schwarzem Basalt befindet und sich &uuml;ber mehrere Bl&ouml;cke erstreckt, ist einer meiner Lieblingsorte in Nicaragua. Hier findet man alles, von H&auml;ngematten, Kommunionsbekleidung, Holzarbeiten, Teppichen bis hin zu Schustern und kleinen Essensst&auml;nden mit typischem Streetfood.

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Zur&uuml;ck in Tola, an einem einst kilometerlang unbesiedelten K&uuml;stenabschnitt, verabrede ich mich mit Daniel Snider und Ivan Saballos Carrion. Wir treffen uns am Riviera Market, der nur ein paar Kilometer von unserem Hotel entfernt ist. Die Mall wurde vor zwei Jahren von ihrem Familienbetrieb&nbsp;Snider&rsquo;s Realty&nbsp;gebaut, als der Tourismus sich in Tola abzeichnete und der Immobilienboom auch den Mittelstand bediente. Mittlerweile gibt es hier Multi-Millionen-Dollar-Projekte, einen Privatflughafen und versteckte Villen in den dschungelartig bewaldeten H&uuml;geln &uuml;ber dem Pazifischen Ozean.

Ivans Onkel war zu Zeiten der Sandinista-Regierung ein hochrangiger Offizier in der Armee. Er ermunterte in den Neunzigerjahren den amerikanischen Mann von Ivans Schwester Roca, den Immobilienmakler Steve Snider, die Region um Tola zu entdecken. Die Grundst&uuml;cke hier hatten zu den ersten geh&ouml;rt, die von der Sandinisten-Regierung nach ihrem Sieg &uuml;ber die Somoza-Familiendiktatur enteignet worden waren.&nbsp;Als Snider 1996 auf Einladung des Offiziers in einem Milit&auml;rhelikopter die Costa Esmeralda &uuml;berflog und mit einem Kugelschreiber potenzielle Str&auml;nde und K&uuml;stenabschnitte markierte, war ihm schnell klar, was er gefunden hatte: das Paradies. Damals, beschreiben Daniel und Ivan, waren sie einsame Fremde auf der Ladefl&auml;che von Pick-up-Trucks, auf der Suche nach Abenteuer, der westlichen Welt fremd &ndash; sie sp&uuml;rten die Freiheit, und das ist es, was Nicaragua besonders macht. Deswegen bin ich hier. Wegen eines unstillbaren Hungers, zu erforschen und zu erleben.

Köpfchen unter Wasser, und die Seele hebt sich in die Höh’ 

Baden, Surfen, Erleben: Mit Ausnahme vielleicht der ärgsten Regenzeit im September und Oktober ist das tropische Nicaragua immer eine Reise wert

Ich h&ouml;re sehr laut&nbsp;Pobre la Maria&nbsp;von Luis Enrique Mej&iacute;a Godoy und rase mit meinem Gel&auml;ndewagen durch die Bergkette auf und ab. Staubwolken h&auml;ngen an den Bergspitzen und werden erleuchtet von den Lichtstrahlen, die durch den dichten tropischen Bl&auml;tterwald fallen. Es ist wie eine Achterbahnfahrt durch Matsch und Gestein. Immer wieder rei&szlig;t der Wald auf und gibt den Blick frei auf dramatische Aussichten: einsame Strandketten, gebirgige Naturreservate, deren H&uuml;gel zum Meer auslaufen und in den Pazifischen Ozean tauchen, begleitet von den Rufen der Dschungeltiere.

&nbsp;

Text und Fotografie: Saskia Nadi

Dieser Artikel ist in der M&auml;rz 2017-Ausgabe von L&rsquo;Officiel erschienen

Große Freiheit in Nicaragua

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